D. Schmid (Hrsg.): Jeder Frau ihre Stimme

Cover
Titel
Jeder Frau ihre Stimme. 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971–2021


Herausgeber
Schmid, Denise
Erschienen
Zürich 2020: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
CHF 39.00
von
Regina Wecker, Historisches Seminar, Universität Basel

Mit vielen Veranstaltungen, Radio- und Fernsehsendungen, Zeitungsartikeln und Publikationen wurde 2021 der Einführung des Frauenstimmrechts auf eidgenössischer Ebene gedacht. Ausführlich wird jeweils die historische Entwicklung bis 1971 analysiert und der Frage nach dem Verlauf der unendlich vielen vorangegangenen Versuche auf kantonaler Ebene und den Gründen ihres Scheiterns nachgegangen. Der Zeitraum nach 1971 wird dann eher kurz abgehandelt. Der von Denise Schmid herausgegebene Sammelband setzt dagegen den Schwerpunkt auf den Zeitraum nach der Einführung des Frauenstimmrechts. Implizit oder explizit steht dabei die Frage im Zentrum, was dieser epochale Schritt den Frauen gebracht hat, wie er ihre Lebenswelt und die politische Situation der Schweiz verändert hat.

In fünf chronologisch geordneten Artikeln analysieren Historikerinnen in 10 Jahresabschnitten die Entwicklung von Frauenrechten und Frauenräumen. Von dieser Dezennium-Ordnung und der Fokussierung auf die Zeit nach 1971 weicht nur der einleitende Text von Caroline Arni ab. Ausgehend vom Ausruf «Endlich!» nach der erfolgreichen Abstimmung 1971, analysiert sie die zahllosen vorangegangenen Versuche der Frauen, an der Ausweitung der demokratischen Rechte teilzuhaben, die für Männer in dieser Zeit erreicht wurden. Weder in der Politik, im Recht oder im Arbeitsleben galten in der Schweiz die «Menschenrechte» für Frauen, bis endlich 1971 ein Anfang für die Ausweitung gemacht wurde. «Nichts versprochen – alles erkämpft» ist zugleich Untertitel und Fazit von Arnis Beitrag. Die späte Realisierung der politischen Rechte ist nicht «ein Zuspätkommen aus Vergesslichkeit», nicht «Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit», kein «Betriebsunfall der Geschichte», es ist eine «Entscheidung, die wiederholt getroffen und bekräftigt wurde» (S. 10). Dieser Kampf um Teilhabe prägt die Geschichte seit 1800 – und er geht nach 1971 weiter. So legt Arni das Fundament für die Darstellungen der Jahrzehnte nach 1971.

Wie prägend die Beziehung zwischen der alten und der neuen Frauenbewegung in der Schweiz war, zeigt Elisabeth Joris in ihrem Beitrag über die 1970er Jahre. Sie unterschieden sich in ihren Aktionsformen wie in ihren Forderungen, grenzten sich voneinander ab, behinderten sich, aber dynamisierten sich doch gleichzeitig. Hier die in der «Vereinsstruktur» organisierte alte Frauenbewegung – dort die neue, über «informelle Arbeitsgruppen, Aktionen und Demonstrationen agierende Frauenbewegung» (S. 47). Diese, für die Schweiz aufgrund der späten Realisierung des Wahlrechts der Frauen so typische und doch sehr spezielle Situation barg viel «kreatives Potential»: Hatte die Wahlrechtsfrage durch den Protest gegen die Ratifizierung EMRK den entscheidenden Schub erhalten, so waren die Forderung nach Liberalisierung der Abtreibung, nach Beratungsstellen und Institutionen zum Schutz vor Gewalt, für die künftige Politik prägend und erlaubten auch den Anschluss an die internationale Frauenbewegung.

Die 1980er Jahre – so Anja Suter – begannen mit «einem gewissen Triumph», der Annahme des Gleichstellungsartikels der Bundesverfassung (S. 103). Er löste trotz der Enttäuschung, dass die weitergehenden Forderungen in diesem Gegenvorschlag nicht enthalten waren, die Schaffung von Gleichstellungsbüros im Bund wie in den Kantonen aus, führte zu – wenn auch zunächst nicht erfolgreichen – Lohngleichstellungsklagen und war nicht zuletzt Grundlage für das wichtige Gleichstellungsgesetz von 1995. Auf rechtlicher Ebene wegweisend war auch die Annahme des neuen Eherechts 1985, das 1988 in Kraft trat und Partnerschaft als Grundlage der ehelichen Gemeinschaft postulierte. Auf gesellschaftlicher, wie auf wissenschaftlicher Ebene waren im internationalen Kontext die Theorien der US-amerikanischen Historikerin Joan W. Scott von der Unterscheidung des biologischen («sex») und des sozialen Geschlechts («gender») prägend. In der Schweizer Wissenschaftsszene – insbesondere in der Geschichtswissenschaft, wo seit dem Ende der 1970er Jahre Lehrveranstaltungen zur «Frauengeschichte» stattfanden – prägten diese theoretischen Ansätze, die Diskussionen und ihre Kritik «eine ganze Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern». (S. 110)

Die 1990er Jahre bezeichnet Fabienne Amlinger in ihrem Beitrag als «eigentliche Blütezeit» der Schweizer Frauenbewegung (S. 170). Die Defizite im Bereich der Gleichstellung wurden in diesem Zeitraum besonders deutlich sichtbar. Und sie mobilisierten, sei es im Rahmen der Bundesfeiern zum 700-jährigen Bestehen der Eidgenossenschaft, der Frauensession oder des legendären Frauenstreiks von 1991 sowie des Protests gegen die Nichtwahl von Christiane Brunner und des Kampfs um die Wahl von Ruth Dreifuss. Das zeitigte Erfolge: in allen gesellchaftlichen Bereichen – so Amlinger – «setzten sich feministische Anliegen durch», auch wenn viele kurz vor der Jahrhundertwende nicht umgesetzt wurden (S. 179). Gegen Ende des Jahrzehnts erlahmte das Interesse an öffentlichen Aktionen, an ihre Stelle traten zum Teil zermürbende Alltagsgeschäfte (S. 185).

Offensichtlich waren Frauen in den Alltagsgeschäften aber erfolgreich – wie Leena Schmitters Überblick zeigt. «Das neue Jahrtausend stand […] unter dem Motto ‹Verankerung›.» (S. 226) «Verankert» wurden die lange vorbereiteten gesetzlichen Regelungen wie das neue Scheidungsrecht, die «Fristenlösung» und die Mutterschaftsversicherung. Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung wurden unabhängig vom Beziehungsstatus ein Offizialdelikt. Ein erfolgreicher Jahrtausendanfang! Feministische Vernetzung war angesagt, die elektronischen Medien schufen neue Möglichkeiten der Information und Kommunikation, sowohl national als auch transnational. Rückschläge wie die deutliche Ablehnung der Quoteninitiative, die «Männerwahl» in den Bundesrat aber auch die «realen Diskriminierungserfahrungen vieler Frauen», zeigten wie wichtig «die Verknüpfung von Forderungen von der Strasse und Forderungen in den Parlamenten» war. Was allerdings in den vergangenen Jahren erkämpft wurde, geriet in diesen Jahren, wie das Beispiel der Versuche der Abschaffung der Gleichstellungsbüros zeigt, «unter Druck» (S. 213).

Angelika Hardegger umgrenzt die 2010er Jahre mit den zwei Frauenstreik-Veranstaltungen, die für sie Anfang und Ende des Jahrzehnts charakterisieren: «Feminismus hatte zu Beginn der 2010er Jahre in der Schweiz wenig Konjunktur» (S. 253), wohl gerade weil es schien, als hätten Frauen es «eigentlich geschafft». Entsprechend erschien der Frauenstreik 2011 als «kleines Fest unter Linken und Gewerkschaftern». Acht Jahre später am 14. Juni 2019 gingen Hunderttausende auf die Strasse. Die «Empörung, Ohnmacht, Wut» darüber, dass sich in wesentlichen Fragen wenig bewegt hatte und dass Diskriminierung sowie sexuelle Belästigung in Presse, Politik, sozialen Medien und Arbeitsplätzen grassierten, entluden sich in dieser mächtigen Protestveranstaltung und waren auch in der Schweiz Reaktion auf die weltweite Me-Too-Bewegung. Der Streik fand auch medial ungewöhnlich grosse Beachtung. Ob er darüber hinaus weitreichende Folgen für Politik und Wirtschaft haben wird – so die Autorin – «muss die Zukunft zeigen» (S. 273). Unbestritten aber ist, dass er für die eidgenössischen Wahlen vom 20. Oktober 2019 von Bedeutung war: Frauen erzielten historische Gewinne. «Endlich!» – so schliesst Angelika Hardegger ihren Beitrag.

Die Analyse der Geschichte der jüngsten Vergangenheit ist immer ein Wagnis – nicht selten beschränken sich Historiker:innen deshalb auf Datenpublikationen und Statistiken. Davon haben die Autorinnen abgesehen und mit ihrer Analyse gezeigt, wie der Einbezug von Frauen, ihr Engagement in Politik und Gesellschaft die Schweiz verändert hat. Es ist aber nicht nur die Analyse, die dieses Buch lesenswert macht: Jeder Artikel wird bereichert durch ausführlich kommentierte Fotos, Plakate und die zeittypischen Flugblätter und ergänzt durch ein Portrait von Frauen, die sich in unterschiedlichen Bereichen gegen Diskriminierungen gewehrt haben.

Das Buch vereint Analysen, Erzählungen, Biografien und bildliche Darstellungen und es ist – nicht zuletzt – ein schönes Buch.

Zitierweise:
Wecker, Regina: Rezension zu: Schmid, Denise (Hg.): Jeder Frau ihre Stimme. 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971–2021, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 96-98. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen